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           Kapitel I              Sayn

Die Zwischenüberschriften und die kurzen erläuternden Sätze stammen vom Übersetzer.

Das germanische Lehenswesen

In einer Art Vorspann zu seinem eigentlichen Werk weist Reiffenberg mit Bezug auf den römischen Schriftsteller Tacitus und das römische Rechtswesen nach, dass das System des germanischen Lehenswesens bis in die Antike sich bei den Germanen nachweisen lässt und vom Grundtyp her auch mit römischem Rechtsempfinden korrespondiert.

„Nicht unter die Stämme Germaniens möchte ich die zählen, die das Dekumatenland[1] bebauen, obgleich sie sich jenseits von Rhein und Donau angesiedelt haben; gerade die leichtsinnigsten und auf Grund ihrer Verarmung verwegenen Gallier haben dieses Land in Besitz genommen – bei recht ungeklärtem Besitzrecht. Später wurde dort die Limesgrenze erweitert und wurden die Schutzposten vorgerückt: So wird dieses Land für einen Vorposten des Reichs und einen Teil der Provinz gehalten,“ sagt Cornelius Tacitus in seinem Buch über die Sitten der Germanen.[2]

Dass aber beim Decumaten- oder Decumanenland nicht nur jene Leute zwischen der Rhein- und der Donauquelle oder im Gebiet der Elbe gemeint waren (wie Althamer[3] und Willich[4] glauben),  sondern dass sich dies überhaupt auf alle Leute bezieht, die den Römern den Zehnten als Nachbarn im Grenzland zu zahlen pflegten, merkte Lipsius[5] zu Recht in seinem Kommentar an der zitierten Stelle mit folgenden Worten an: „Ich glaube, dass die irren, die hier einen eigenen Stammes- oder Ortsnamen suchen. Wie sollen denn dieselben Stämme oder Landschaften zugleich jenseits von Rhein und Donau existieren? Ich interpretiere ‚Decumatenland‘ [als das Land derer,] die den Zehnten entrichten."
Und so ist es richtig -und nichts anderes meint auch Tacitus-, als dass jene dem römischen Limes näher gelegenen Lande (die er von der Form her als „einen Bogen in der Reichsgrenze“ und wegen der ständigen Gefährdung „ein Land von zweifelhaftem Besitzstand“ nennt) aus Furcht vor Verwüstung und Verlust der Güter niemand außer den besonders leichtsinnigen und wegen ihrer Armut verwegenen Galliern bebaut hat.

Erst nachdem die Schutzposten vorgeschoben waren und so die Furcht vor einem feindlichen Einfall beseitigt war, wurde dieses Land den am Limes stationierten Offizieren und Soldaten übergeben - und zwar nicht nur von Kaiser Alexander Severus, sondern auch von ihm nachfolgenden Kaisern:

Über Alexander Severus[6] [schreibt] Lampridius[7]: „Den Grund und Boden, der den Feinden entrissen worden ist, schenkte er den am Limes stationierten Offizieren und Soldaten mit dem Zusatz, dass er auch ihren Erben gehören solle, wenn diese Erben Kriegsdienst leisten, dass sie aber niemals Privatpersonen gehören sollen. Er war nämlich der Ansicht, dass diese Soldaten aufmerksamer ihren Militärdienst leisten würden, wenn sie auch ihr eigenes Land verteidigten. Und er ließ diesen Soldaten vernünftigerweise sowohl Vieh als auch Sklaven zukommen, damit sie das Land, das sie erhalten hatten, auch bebauen können, damit die dem Barbarenland benachbarten Länder nicht wegen Mangel an Menschen oder wegen Überalterung seiner Besitzer aufgegeben würden, was jener [gemeint ist Alex. Severus] für das Schlimmste hielt.“ Gleiches über die Besitzverhältnisse im Grenzbereich wird auch von den ihm nachfolgenden Kaisern gesagt, wie zur Genüge das Gesetz des Theodosius[8] zeigt und der Codex des Valentinianus[9] A.A..  Dessen Aussage ist die folgende: „Wir wünschen, dass die Äcker im Grenzgebiet insgesamt einschließlich dem [noch nicht urbar gemachten] Sumpfland mit vollem Recht den Soldaten wie bisher ohne irgendeine Abgabelast, wie es von alters her festgelegt ist, überlassen werden. Denn die im Grenzland angesiedelten Soldaten waren gewohnt, sich um diese Äcker auf Grund althergebrachter Verteilung frei von jeglicher Abgabe selbst zu ihrem eigenen Nutzen zu kümmern und sie zu bestellen. Wenn diese Äcker also zurzeit bebaut werden, dann werden sie ohne irgendeine Sorge um Steuerabgaben bebaut.

Wenn aber die Äcker von anderen in Besitz genommen werden und die [obige] Regelung für eine gewisse Zeitspanne außer Kraft gesetzt ist, so müssen die Äcker von all denen, die sie für sich zurückbehalten hatten, zurück­gefordert und  - so wollen wir es - den Soldaten wieder zugeeignet werden.“

Man kann, wenn man will, diesen [Bestimmungen] noch [diejenigen aus] den Digesten[10] über „die Wiedererlangung des Eigentums vom bisherigen Besitzer“ (XXI,2) hinzufügen und zweifelsohne auch das, was in der Pfarrei Heimbach heute noch an Zeugnissen bzgl. des Lehenswesens vorhanden ist, die - davon bin ich fest überzeugt - nicht von anderswoher als von jener Anweisung des Alexander Severus stammen und denen zufolge auch die  Germanen derartige „Lehensmänner“ hatten. So schreibt nämlich (auch) Tacitus in seinem Buch über die Sitten der Germanen: „Die anderen Sklaven setzen sie nicht gemäß unserer Sitte ein, nach der innerhalb der Hausgemeinschaft die  Aufgaben zugewiesen wurden; bei den Germanen hat jeder seinen eigenen Wohnsitz, sein eigenes Zuhause; der Herr verpflichtet

ihn zur Abgabe einer [bestimmten] Menge an Getreide, Vieh oder Stoff wie einen Pächter und insoweit trägt dieser dem Sklaven[11] Rechnung.“[12]


[1] Agri decumates =Dekumatenland. Tacitus prägte diesen Begriff für das von den Römern besetzte, durch den Limes gesicherte Gebiet zwischen Donau und Rhein, das 260 von den Alemannen erobert wurde.
[2]
Tacitus, Germania 29,4
[3]
Althammer, Andreas, 1500-1539, deutscher Humanist und Reformator.
[4]
Willich, Jodocus, 1501-1552, Universalgelehrter, einer der frühen Tactitus-Forscher.
[5]
Lipsius, Justus, 1547-1606, flämischer Philosoph und Philologe.
[6]
Alexander Severus war römischer Kaiser 222-235; anlässlich eines Feldzuges gegen die Germanen hielt er sich 234/235 am Rhein und am Limes auf. Angeblich hat ein Aelius Lampridius seine Vita beschrieben; aber weder über diese Vita noch über deren Autor wissen wir Sicheres.
[7]
Lampridius, Aelius, 2./3. Jahrhundert n. Chr. Verfasser der „Historia Augusta“, einer Sammlung von 30 Biographien und solcher Personen, die versuchten, die Staatsgewalt an sich zu reißen (Usurpatoren).
[8]
Theodosius war römischer Kaiser 379-395.
[9]
Valentinianus I. war römischer Kaiser 364-375; er vertrieb 366 die Alemannen aus Gallien, drang 367 an den oberen Neckar vor und baute ein starkes Festungssystem an Rhein und Donau aus.
[10]
Die Digesten sind innerhalb des unter Kaiser Justinian (527-565) gesammelten römischen Rechts ein wichtiger Bestandteil dieser Rechtssammlung, in der insbesondere alle zivilrechtlichen Regelungen enthalten sind.
[11]
  Die von Tacitus als „Sklaven“ (servi) bezeichneten Männer sind hier identisch mit dem Begriff „Lehensmänner“.
[12]
Tacitus, Germania 25,1


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